90 Jahre "Rheinsberg"

"Rheinsberg" am Kurfürstendamm

von Frank-Burkhard Habel.

Dass Wölfchen und Claire gemeinsam Rheinsberg besuchten, liegt schon 91 Jahre zurück. Im November 2002 waren es 90 Jahre, dass Tucholskys "Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte" zum ersten Mal erschien. Es war mehr als eine Liebesgeschichte: eine erzählerische Provokation gegen Heuchelei und Prüderie, gegen Traditionalismus, eine sanfte erotische Rebellion. Tucholsky hatte das Buch von seinem Freund Kurt Szafranski illustrieren lassen. Die beiden eröffneten im selben Herbst eine Bücherbar am Kurfürstendamm. "Rheinsberg" wurde gut verkauft, und jeder Käufer eines jeden Buches erhielt einen Schnaps. Auch das war damals eine Provokation und erregte viel Aufsehen.

An diese Tradition knüpfte die KTG an, als sie zum 90. Erscheinungsjahr des Büchleins mit einer Lesung wieder einmal an Tucholskys Erstling erinnerte. Der Weg führte ins Literaturhaus in der Berliner Fasanenstraße, wenige Schritte vom Kurfürstendamm entfernt. Natürlich gab es hier ein reichhaltiges Buchangebot, auch an Schnaps war kein Mangel.

Zu Beginn der gutbesuchten Veranstaltung erinnerte KTG-Vorstandsvorsitzender Eckart Rottka an das Zustandekommen von Tucholskys Liebeserzählung, daran, dass der damals Einundzwanzigjährige gemeinsam mit Claire Pimbusch Rheinsberg besucht hatte. Das war, wie Tucholsky-Kenner wissen, ein Spitzname, der einer Romanfigur aus Heinrich Manns "Im Schlaraffenland" entlehnt war. Claire war Else Weil, die 1920 die erste Frau Tucholsky wurde. Einige Spitzen des Textes waren auf das Fridericus-Jahr gemünzt. 1912 beging man den 200. Geburtstag des großen Königs, eine Tatsache, die man heute aus dem Auge verloren hat.

Drei Schauspieler trugen den Text vor. Es war ein Glücksfall, dass als Erzählerin Anna Thalbach gewonnen werden konnte. Sie las mit ernsthaftem Spaß an der Sache, gestikulierte mitunter, um dem Text gerecht zu werden, ließ auch das Berliner Idiom nicht vermissen. Die Schilderung des Kinobesuches wurde bei ihr ebenso lebendig wie die Charakterisierung des Schloss-Kastellans, bei dem man in Anna Thalbachs Interpretation den alten Karl Hellmer zu hören glaubte, der die Rolle einst in Kurt Hoffmanns Film spielte.

Claire und Wölfchen wurden von zwei Absolventen der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch gestaltet. Heike Warmuth, mit einer kecken roten Mütze auf dem Kopf, meisterte den Part der Claire mit Charme. Das ist nicht leicht, denn die vielen ganz eigenen Redewendungen, die Tucholsky ihr in den Mund legte, könnten leicht infantil wirken. Dem entging sie mit Bravour. Sie hatte Witz und Ironie und das nötige Quäntchen Verliebtsein.

Leider gelang es Oliver Urbanski als Wölfchen so gar nicht, den Tonfall der Partnerin abzunehmen. Er wirkte introvertiert, und wenn er Claires Meinungen nicht so ganz teilen konnte, unwirsch und zurechtweisend. Beide Schauspieler tauschten zum Text passende Zärtlichkeiten aus, die von Wölfchens Seite eine Unbeholfenheit hatten, hinter der man nur schwer Leidenschaft erahnen konnte.

Ein solches Manko hat natürlich auch sein Gutes. Wie langweilig, wenn alles seine makellose Perfektion hätte. Jeder Leser hat seine eigene Vorstellung von Tucholskys Text, und viele Besucher werden ihn am Abend noch einmal vorgenommen haben, um ihre eigene Interpretation zu finden. Und das hätten Claire und Wölfchen vor 90 Jahren nicht zu erträumen gewagt.